Geschichten aus der Praxis – “Stoppuhr”
Während ich mir Namen einfach nicht merken kann, sind dagegen Gesichter in meinem Gehirn wie eingebrannt.
Und dieses Gesicht dort, das zu einem älteren Herrn gehörte, der soeben unser Ladenlokal betrat, das konnte ich wohl niemals vergessen.
Schon während ich den Herrn hereinkommen sah, spürte ich ein heftiges Kneifen an meiner linken Wange. Mein Langzeitgedächtnis funktionierte offenbar gut.
War es doch niemand anderer als „Pfanni“, mein Physiklehrer aus der Volksschule. Pfanni war natürlich eine Verhohnepiepelung seines richtigen Namens, so wie Kinder es eben mögen.
Er sah mich an und schien mich ebenfalls zu erkennen, was mich doch sehr wunderte. Vor 30 Jahren hatte ich zur Realschule gewechselt und mit 9 Jahren hatte ich ganz bestimmt noch keinen Bart getragen.
Aber die Lösung dieses Rätsels war recht einfach: Meine Frau war zurzeit im Rahmen einer Sondermaßnahme an meiner alten Schule eingesetzt und so hatte Pfanni von ihr mit Interesse gehört, wer ihr Ehemann war und dass wir ein HiFi-Studio betrieben.
Das Kneifen an der Wange, das ich immer noch spürte, erinnerte mich an seine „Spezialität“. Wer beim Aufstellen auf dem Schulhof (ja – zugegeben, so alt bin ich schon) nicht still stand (und das tat ich selten), musste an der Eingangstür warten. Dort drehte Pfanni einem mit Genuss das Wangenfleisch herum, so dass man glaubte, er wolle einen Knoten hinein machen.
Danach zog er daran, holte mit der linken Hand aus und schlug dann aber doch mit der rechten Hand zu, mit der er einem ja gerade noch in die Wange gekniffen hatte. Und zwar schlug er so zu, dass man durch die halbe Eingangshalle rutschte.
Noch während ich darüber nachdachte, ihm auf der Stelle Hausverbot zu erteilen, wagte er die Flucht nach vorne und entschuldigte sich bei mir. Es folgte ein für mich aufschlussreiches Gespräch und am Ende hatte ich ihm verziehen.
So mehr oder weniger.
Damit war der Weg zu seinem eigentlichen Anliegen geebnet, er wollte eine HiFi-Anlage kaufen. Nichts wahnsinnig teures – 3.000,- DM war sein Limit.
Etwa eine Stunde später stand diese Anlage auf dem Papier fest. Die Boxen mussten in der gewünschten Farbe bestellt werden und zwei Tage danach fuhr ich zu ihm, um alles aufzubauen.
„Jetzt hören Sie sich bitte eine Woche intensiv die Anlage an. Hören Sie so viel Sie können und am besten Stücke, die Sie gut kennen. Nächste Woche um die gleiche Uhrzeit bin ich wieder hier und dann optimieren wir die Anlage mit den passenden Kabeln. Wir haben ja noch einen Spielraum von 500,- DM – das dürfte locker ausreichen.“
Ich sah in ein Gesicht voller Fragezeichen, gerade so als hätte ich ihm gesagt, dass das Geld lediglich dafür ausreichen würde, dass er die Anlage eine Woche hören darf und ich sie nächste Woche wieder zurückholen würde.
„Kabel?“ hörte ich ihn fragen: „Ja, sind denn keine Kabel dabei?“.
„Doch sicher! Aber nur die Beipackstrippen. Nächste Woche bringe ich meinen Testkoffer mit und dann suchen wir uns die wirklich passenden Kabel aus.“
„Herr Saul! Sie wissen noch, dass ich Physiklehrer bin?“
„Ja-a!“
„Und mir wollen Sie hier verklickern, dass Kabel unterschiedlich klingen können? Den Weg können Sie sich sparen!“
Ich blieb bei meiner Ankündigung – und tschüss – bis nächste Woche.
Ich brauchte an dem Kabel-Test-Abend etwa 30 Minuten, um heraus zu finden, welche Lautsprecherkabel und welche Cinch-Kabel wir für diese Anlage gebrauchen konnten.
„So, jetzt sind Sie dran! Geben Sie mir bitte eine CD, die Sie wirklich gut kennen und deren Musik in der Lage ist, Sie emotional zu berühren.“
Pfanni gab mir eine CD mit einer Klavieraufnahme und nahm auf seinem Hörsessel Platz.
Den folgenden Kommentar konnte er sich aber nicht verkneifen:
„Herr Saul, das können wir uns jetzt wirklich sparen. Ich hab doch alles mitbekommen. Zu keiner Zeit hat es irgendwie anders geklungen – niemals! Da gab es nicht den Hauch eines Unterschieds!“
Ich ließ mich nicht beirren und klemmte ein Lautsprecherkabel von Walther Füg zwischen Verstärker und Boxen. Das Kabel gibt es leider nicht mehr. Es hat damals gerade einmal 5,- DM pro Meter gekostet und war erst zu toppen, wenn man bereit war, das Zehnfache zu investieren.
Hier passte es erstens sehr gut in die Anlage und zweitens war auch gar kein Budget mehr da, um das FÜG-Kabel durch ein wirklich besseres zu ersetzen. Das war also schon mal abgehakt.
Als Cinch-Kabel zwischen CD-Player und Verstärker wählte ich zunächst ein Burmester Lila. Ein gutes und recht teures Kabel, was aber in diese Kette überhaupt nicht passte.
Pfanni hörte eine Weile hin, nicht ahnend, was ich gerade im Schilde führte und meinte nur, dass er beeindruckt sei. Es würde hervorragend klingen, aber das hätte es auch die ganze Woche schon getan.
„Was meinen Sie zu dem Timing?“ fragte ich nach.
„Ist doch gut, oder?“ war seine Antwort, die ja mehr eine Gegenfrage war.
„Ist Ihnen das nicht zu langsam?“
„Nee – die Aufnahme ist doch so tragend, das muss so sein!“
„Soll ich Ihnen sagen, wie ich das hier gerade empfinde? Ich sehe einen Pianisten, der kurz davor ist einzuschlafen, sein Kopf ist tief nach vorne gebeugt und seine Stirn prallt jeden Moment auf die Tasten. Kurz und gut – dies ist lahm, müde, einschläfernd und alles andere als beeindruckend!“
Wieder meinte er, die Aufnahme sei so und er würde sie genau so mögen.
Ich war aber schon damit beschäftigt, das Lila gegen ein Straight Wire Maestro auszutauschen.
„So, jetzt hören wir das gleiche noch einmal.“
„Herr Saul! So kann ich das nicht vergleichen, die CD läuft ja jetzt viel schneller!“
„Läuft sie nicht!“ – „Läuft sie wohl!“ – „Läuft sie nicht! Eine CD kann nicht mal schneller, mal langsamer laufen! Wie schnell sich die CD zu drehen hat, das steht auf der CD und der Player liest das aus und hält sich daran. Es gibt CD-Player für DJs, die man „pitchen“ kann, aber ein Standard-CD-Player wie dieser hier, der hat diese Ausstattung nicht.“
„Ich lass mich doch nicht veräppeln! Das läuft doch bald doppelt so schnell! Herr Saul, Sie wissen, dass ich auch Sportlehrer bin? Ich hab eine Stopp-Uhr!“
Fast triumphierend, mit der Gewissheit, mir mein schelmenhaftes Treiben gleich beweisen zu können, kam er Sekunden später aus dem Schlafzimmer zurück und hielt eine Stoppuhr in der Hand.
Ich mache es an dieser Stelle kurz. Ich musste etwa 6 mal die Kabel wechseln und seine Messdauer wurde immer länger, weil sich mit der Stoppuhr absolut kein Zeitunterschied nachweisen lies.
„Das gibt es doch nicht! Das läuft doch schneller, das hört man doch! Wieso kann ich das denn nicht messen?“.
„Sehen Sie! Vor wenigen Minuten noch gab es für Sie keinen Unterschied zwischen den Kabeln. Jetzt läuft die CD für Sie bei dem einen Kabel schneller als bei dem anderen. Das ist doch ein großer Unterschied oder nicht?“
„Ja, aber erstens trau ich der Sache immer noch nicht so richtig und zweitens stellt sich doch die Frage, ob das Maestro ein besseres Kabel ist als das Lila, nur weil es schneller klingt!?“
„Nein, ist es nicht! Es hat nur ein anderes Klangbild. Das Maestro gefällt mir in dieser Kombination überhaupt nicht. Obwohl es das Kabel ist, was ich derzeit rollenweise verkaufe, weil es in anderen Ketten eben ein wirklich gutes Kabel ist. Hier aber läuft das viel zu hektisch. Ich habe die ganze Zeit den Eindruck, als hätte der Pianist auf die Uhr gesehen, bemerkt, dass sein Bus gleich fährt und jetzt noch schnell das Stück zu Ende spielen muss. Also mich macht das hier furchtbar nervös.“
„Ja, das kann ich bestätigen. Und Sie meinen wirklich nicht, dass sich die CD schneller dreht? Mhh. Aber was soll ich denn jetzt machen? Die Kabel sind doch, wenn ich Sie richtig verstehe, beide nicht gut, kosten aber richtig Schotter!“
„Genau richtig erkannt! Sie haben das Glück, dass das günstigste Kabel, das ich heute mitgebracht habe, das Kabel mit dem neutralsten Klang ist.“
Ich klemmte ein Oehlbach NF-2 zwischen CD-Player und Amp. Das NF-2 ist beiden anderen Kabeln grundsätzlich unterlegen, aber es gelang ihm in dieser Kombination, wirklich „in der Mitte“ zu spielen. Gleichzeitig überzeugte es auch in fast allen anderen Disziplinen. Ganz bestimmt hätte ich ein Kabel für mehrere Hundert DM finden können, was besser gewesen wäre, aber das hätte nicht mehr ins Budget gepasst, also lautete mein Rat, bei dem Oehlbach zu bleiben.
„Das passt wirklich wunderbar. Also damit kann ich sehr gut leben. Und das kostet jetzt wirklich nur 60,- DM?“
„Ja, genau! 60,- DM fertig konfektioniert mit Steckern und Verpackung!“
An diesem Abend verließ ich die Wohnung eines Kunden und hatte für 50,- DM Lautsprecherkabel und für 120,- DM Cinchkabel verkauft. Für den Kaufmann wäre sicher mehr drin gewesen. Ich fand es aber wichtiger, dass jemand, der noch vor einer guten Stunde jeden Klangunterschied durch Kabel für ein Märchen gehalten hat, jetzt in der Lage war, im Blind-Test zu hören, welches Cinch-Kabel ich angeschlossen hatte. Fehlerfrei!
„Das ist ja auch ganz einfach! Wer das nicht hört, der hört auch den Unterschied zwischen einem Kuckkuck und einem Uhu nicht!“
Diesen Worten hatte ich nichts hinzuzufügen.
Ende der Geschichte.
Was kann der Leser dieser Geschichte entnehmen?
Zum einen: Wer mir die Geschichte nicht glaubt und mich für einen Märchenerzähler hält, der mag sich genau diese drei Kabel besorgen. Der Ablauf hat sich 1994 zugetragen. Alle drei Kabel sind mittlerweile so nicht mehr im Programm oder wurden längst weiterentwickelt. Die alten „Strippen“ dürften also in den bekannten Auktionen nicht allzu teuer werden.
Zum anderen: Die Entwickler von preisgünstigen Kabeln, also sagen wir mal Cinch-Kabel bis hin zu 100,- Euro/Satz und Lautsprecherkabel bis hin zu 10,- Euro pro Meter, versuchen in der Regel Kabel zu entwickeln, die so neutral klingen, wie es nur irgend möglich ist, weshalb es für den Anfang eine gute Idee ist, die Beipackstrippen einfach gegen solche Kabel auszutauschen.
Die nächst höhere Preiskategorie (bis 500,- Euro pro Cinch-Kabel und 50,- Euro pro Meter Lautsprecherkabel) ist gefährlich! Sie richtet sich oft an diejenigen, die gerade dabei sind, diese Klangunterschiede zu entdecken. Um es ihnen leicht zu machen, haben viele dieser Kabel einen ausgeprägten Klangcharakter, klingen also z.B. extrem analytisch oder haben einen mächtigen Bass. Der Kunde ist in der Regel so sehr fasziniert von der Tatsache, dass er plötzlich in der Lage ist, Klangunterschiede selber zu hören, dass er gerne zu solchen Sound-Kabeln greift.
Leider gehen uns solche Sound-Kabel ziemlich schnell auf die Nerven. Das ist so, als würden wir auf jedes Essen die gleiche Tomatensauce schütten. Irgendwann hat man einfach die Nase voll davon.
Keinen Schritt weiter kommen wir, wenn wir dann dieses Sound-Kabel durch ein anderes Sound-Kabel austauschen. Wer also einmal den Fehler begangen hat, sich auf ein solches Kabel einzulassen, der sollte so lange dazu stehen, bis er bereit ist, noch einmal deutlich mehr Geld zu investieren. Und wenn es dann soweit ist, dann muss man hören – hören – hören!
Und niemandem glauben! Keinem Händler, keinem Handbuch, keiner Zeitschrift und keinem Freak, der weiter zu sein scheint als wir selber – sondern ausschließlich unseren Ohren.
Und so lange die nicht schreien: “Genau das Kabel will ich haben! Ich kann nicht mehr sein, ohne dieses Kabel!” – so lange geben wir die geliehenen Kabel brav wieder zurück und warten noch!